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  • Martin Kunz

Religion?

Updated: May 16, 2021

Ethik, also die Fragen des persönlichen und kollektiv gelingenden Lebens, seien ohne Religion nicht zu begründen, warf kürzlich jemand in einem Gespräch ein. Philosophie genüge nicht. Letzteres mag ja stimmen. Aber inwiefern helfen uns die etablierten Religionen, wenn uns existentielle Fragen bewegen?

Die ethische Mitte des Christentums ist die Botschaft der Liebe. Diese Botschaft ist so radikal, dass wir sie immer wieder relativieren müssen. Die Geschichte des Christentums, insofern sie eine Geschichte von mächtigen Institutionen und damit immer auch von Exklusion, Streit, Entwürdigung von Andersdenkenden und Mord ist, bietet Material genug, um diese Relativierungen zu studieren.


Die schlimmsten Schattenwürfe mögen hinter uns sein, doch nach wie vor trennen theologische Konstrukte und verdinglichte kirchliche Praktiken die unterschiedlich Glaubenden. Immer mehr aufgeklärte Menschen schütteln den Kopf über diese von Menschen gemachten Hindernisse. Viele bewegen die Spitzfindigkeiten der Herrschaftstheologie nicht mehr, und sie fühlen sich mit Andersgläubigen in versöhnter Verschiedenheit verbunden. Die Frage ist aber, inwiefern die Besinnung auf sogenannte christliche Werte die ethische, lebenspraktische oder auch politische Haltung eines Menschen bestimmen kann. Gibt es  d a s  Christentum überhaupt? In welchen uns aktuell bewegenden Fragen vertreten die Christen die gleichen Werte? Das Liebesgebot hilft offenbar lebenspraktisch kaum weiter, denn:


Es gibt Christen, die sprechen sich für die Möglichkeit der Abtreibung aus, andere Christen lehnen sie strikte ab. Es gibt Christen, die sind für die barmherzige Aufnahme von Flüchtlingen, andere nicht. Die einen Christen sind überzeugt, dass die unterschiedlichen sexuellen Ausrichtungen Gott wohlgefällig sind, andere glauben genau zu wissen, wie Gott unterscheidet und was Sünde ist. Viele Christen trennen klar zwischen wissenschaftlichen Erkenntnisformen und religiösen Deutungen, andere vermengen Wissen und Glauben und lehnen zum Beispiel die Erkenntnisse der Evolutionsforschung ab usw. Und alle argumentieren mit der Bibel oder mit Argumenten, die sie für den Kern der christlichen Botschaft halten, oder fachtheologisch. Worin besteht nun also das Christliche? Offenbar gibt es gar keine klaren christlichen Werte.


Ob ich also in meinem Leben Weitherzigkeit, unkonventionelle Deutungen und Praktiken von Lebensgestaltung favorisiere oder ob ich eher dogmenhörig und autoritätsgläubig zu leben versuche oder Mischungen davon, wird nicht durch meine Zugehörigkeit zur christlichen Wertegemeinschaft, die es im Singular nicht gibt, bestimmt. Wodurch denn dann?


Es ist der Stand meiner Entwicklung, meine psychosoziale Einbettung, meine persönliche Mixtur von Bedingtheit und Freiheit und meine Bewusstseinsarbeit, die meine Entscheidungen lenken. Diese persönliche Gleichung schliesst nicht aus, dass jemand in wichtigen Entscheidungssituationen, in sogenannten Krisen, eine Art überpersönliche Erfahrung macht. Wer in ein existentiell bedeutsames Umdenken hineingerissen wird, erlebt diese Situation oft als unerhört, als wäre etwas Unbedingtes ins Spiel gekommen, als etwas Erhabenes, als würde ein grosses Ja gesprochen jenseits von Begründungen. Grosse Aha-Erlebnisse, die zu Weichenstellungen führen, sind so etwas wie Erleuchtungen. Ein Erwachen.


Spreche ich jetzt nicht selber religiös? Doch. Aber dieses „Religiöse“ kommt letztlich nicht von Kirchen und formatierten Konfessionen und Bekenntnissen her. Es ist schwer zu benennen, was es ist. Fast nur abgedroschen lässt sich darüber reden. Was immer es ist: Es war vor allen ausgestalteten Religionen schon am Wirken. Die Religionsstifter waren Medien von etwas, das in der mentalen Evolution angelegt und zur Ausformulierung bereit war. Religionen sind Vehikel.


Was wir aus den heiligen Büchern herauslesen, lesen wir, so gesehen, in sie hinein. Jede Epoche, jeder einzelne favorisiert bestimmte Deutungsstränge. Wir hängen an jenen Mythen, Geschichten und Konstrukten, die uns ansprechen. Wir theologisieren uns das zusammen, was der Zeitgeist will und was uns in den Kram passt. Fragen und Antworten können ja gar nicht anders als in jenen sprachlichen Formen ausgedrückt werden, die in einem bestimmten Zeitraum zur Verfügung stehen. Trotzdem erscheint es uns oft so, dass wir in entscheidenden Momenten von etwas berührt werden, das quer zu dem spricht, was einfach nur der Fall ist. Der Grosse Hintergrund, das Umfassende (Karl Jaspers), das absolute Wissen des Unbewussten (C.G. Jung) offenbart sich nicht so, wie es unsere vorgefassten Meinungen und Moralvorstellungen gerne hätten. Deshalb faszinieren uns die Mystiker, die Ketzer, die aus Gehorsam Ungehorsamen, vielleicht sogar die grossen Verneiner. Hören nicht auch sie gelegentlich auf eine – für sie aus dem Nichts kommende – ichtransformierende Botschaft?


In den Religionen, ihren Bildern und Büchern und in der Tradition religiöser Reflexion sind – neben allerhand Unfug – Schätze zu finden, poetische Tiefe und Keime von Humanität, auf die einzulassen sich nach wie vor lohnt. Wo wir uns aber von diesen Geschichten, Überlieferungen und Ritualen nicht mehr verstanden fühlen, mag uns eine etwas gewagte Zuversicht beflügeln: Das Enttäuschende an Religion, ihre Torheiten werden eines Tages von der Vernunft überwunden werden und an die Stelle verkleideter Wahrheit werden Formen von noch ungeahnter Weisheit treten. Diese tanzt schon seit eh und je im Hintergrund, will uns öffnen für die Grazie eines immer und nie gelichteten Rätsels. Wer mich findet, findet das Leben, sagt sie (Sprüche 8, 35).


Ein Gesprächsteilnehmer, dem nicht mehr recht wohl war in der Runde, fragte überraschend: Was würde wohl Jesus Christus sagen, wenn er hier plötzlich einträte? Er würde uns möglicherweise ein Gleichnis der Liebe erzählen, eine humoristische, ironische oder paradoxe Geschichte, antwortete ich. Und wir müssten auslegen, deuten, unterscheiden und klären. Schon deshalb braucht es auch Philosophie.

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